Sarah Vecera, stellvertretende Leiterin der Abteilung Deutschland bei der Vereinten Evangelischen Mission, spricht im EKiR-Interview mit Ekkehard Rüger über die Gründung der VEM vor 25 Jahren, ein neues Verständnis von Partnerschaft und heilsame Prozesse in einer rassistisch geprägten Welt. Aus: EKiR.info (Ausgabe August 2021)
Frau Vecera, die internationale VEM feiert mit ihrem 25-jährigen Bestehen die Neubegründung der Gleichberechtigung ihrer 39 Mitglieder. War das damals auch ein Abschied von einem Stück Rassismus in der Missionsgeschichte?
Sarah Vecera: Rassismus würde ich nicht sagen. Aber es war ein Abschied vom kolonialen Erbe, das die Mission nun mal in sich trägt. International waren wir vorher schon, aber seit 25 Jahren leben wir unsere Gemeinschaft von Kirchen auch auf Augenhöhe. Alle unsere Gremien von der Vollversammlung über den Internationalen Rat bis zu unseren drei Büros in Wuppertal, Daressalam und Pematang Siantar sind international besetzt.
Trägt die VEM noch schwer an ihrem kolonialen Erbe?
Vecera: In unserer Vollversammlung kommen nur sieben von 39 Mitgliedern aus Deutschland und 32 aus dem globalen Süden. Und sie senden entsprechend ihrer Größe ihre Delegierten in die Versammlung. Dort sind die Deutschen also in der Minderheit. Das wirkt sich auch bei den Themen aus. Die Deutschen sträuben sich zum Beispiel immer gegen den Missionsbegriff, weil er für sie so negativ besetzt ist. Aber den anderen Mitgliedern ist er wichtig und sie wollen ihn auch im Namen beibehalten. Mission hat in den afrikanischen und asiatischen Ländern keinen so negativen Klang wie in Deutschland. Dass in Indonesien noch heute die Ankunft der Missionare gefeiert wird, dazu zwingt die Kirchen dort ja niemand.
Wie wirkt sich das beim Thema Rassismus aus?
Vecera: Es hilft, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen. Natürlich haben wir in Deutschland durch unsere Geschichte ein spezielles Verhältnis zum Thema Rassismus. Aber wenn man sich Indonesien anguckt und das extreme Verhältnis innerhalb eines Landes zu Menschen aus West-Papua, zeigt das, dass wir von einem globalen und strukturellen Problem reden, das historisch gewachsen ist. Das macht es einerseits komplizierter, aber auch wieder einfacher, weil es nicht um einen individuellen Rassismus geht, der als Begriff gleich mit Schuld und Scham besetzt ist, sondern um ein Problem, für das wir gemeinsam Verantwortung übernehmen können.
Und das welche Wurzeln hat?
Vecera: Rassismus ist ein Konstrukt, das aus eurozentrischer, weißer Perspektive entstanden ist, um Ausbeutung und Sklaverei zu legitimieren. In der Rassismusforschung gilt das Jahr 1492, in dem Kolumbus die Amerikas entdeckt hat, als Beginn. Wir haben dieses Konstrukt also schon seit mehr als 500 Jahren verinnerlicht, sodass wir es oft gar nicht mehr merken. Der Glaube an die Erfindung von Menschenrassen besteht bis heute unbewusst in unseren Köpfen.
Wie geht die VEM heute mit internem Rassismus um?
Vecera: Die VEM sagt schon von sich, dass sie auch kein rassismusfreier Raum ist. Wir sind sensibilisiert, aber wir leben trotzdem in dieser rassistisch geprägten Welt. Wie die wirtschaftlichen Verhältnisse in der Welt aussehen, das hat sich ja nicht verändert und das spiegelt sich auch in unseren Mitgliedskirchen wider. Aber es gibt auch Momente, in denen wir zum Beispiel der Bundesregierung 17 Jahre voraus sind, wenn es darum geht, den Völkermord an den Herero und Nama in Namibia anzuerkennen. Das hat die VEM mit dem namibischen Bischof Kameeta schon 2004 gefordert. Wir können gemeinsam auch heilsame Prozesse in die Wege leiten.
Hat einer dieser Prozesse im vergangenen Oktober auch zum Statement gegen Rassismus geführt?
Vecera: Dieser Prozess war sehr schwer. Für uns war es nicht möglich, das Statement auf einer halben Seite zusammenzufassen, weil wir so tief in der Thematik stecken, weil sie so vielschichtig ist, weil so viel erwähnt werden muss und weil so unterschiedliche Menschen am Tisch saßen. Das Statement ist dann zustande gekommen, aber es ist nicht kurz geworden und zeigt dadurch die Komplexität des Themas gut.
Haben die vergangenen 25 Jahre dafür gesorgt, dass sich unter den Partnerkirchen der VEM das Verständnis von Geben und Nehmen verändert hat?
Vecera: Da ist schon die Sprache wichtig. Wir reden schon lange nicht mehr von Partnerkirchen, sondern von Mitgliedskirchen, weil bereits im Begriff der Partnerkirchen ein Gefälle steckt. Aber das Thema Geld bleibt schwierig, weil damit auch Beziehungen verspielt werden können. Wir haben bei der VEM inzwischen Strukturen geschaffen, in denen sich Partnerschaften nicht vom Geld abhängig machen. Aber die Erwartungshaltungen sind unter Corona sicher noch größer geworden. Dafür hat die VEM eine Task Force gebildet, die die Gelder als internationale Gemeinschaft verteilt. Unsere Kolleginnen und Kollegen aus Asien und Afrika haben gerade ein Papier entworfen, in dem sie kritisch auf Partnerschaften blicken. Das hat zuerst für unglaublich viel Empörung gesorgt, aber dann auch für spannende Diskussionen, weil die Kollegen und Kolleginnen aus dem globalen Süden einmal unverblümt ehrlich waren.
Wie schwer hat es das Thema Rassismus generell in der Kirche?
Vecera: Es kommt darauf an, wie tief man geht. Auf der oberflächlichen Ebene können wir vieles nicht leugnen: dass wir eine weiße Kirche sind; dass wir Jesus schon in unseren Kinderbibeln sehr weiß und eurozentrisch darstellen; dass wir vor noch gar nicht langer Zeit paternalistische Entwicklungshilfe geleistet und stereotype Bilder aus Afrika und Asien verbreitet haben; dass wir ausschließlich von weißen Menschen Theologie gelernt haben. Und wir können auch nicht abstreiten, dass wir uns aufgrund unseres Glaubens mit Rassismus auseinandersetzen sollten, weil alle Menschen zu Gottes Ebenbild geschaffen wurden. Aber wenn es um die Konsequenzen geht, wird oft gesagt: Dann nennt uns bitte drei Punkte, wie wir das Problem beseitigen können. Wir reden aber über ein 500 Jahre altes Konstrukt. Dafür müssen wir uns Zeit nehmen und Rassismus muss in den nächsten Jahren ein Querschnittsthema unserer Kirche werden. Das ist ein Marathon und kein Sprint.
Sie haben eine Quote für People of Color vorgeschlagen. Warum?
Vecera: Sobald People of Color an entscheidenden Stellen auch Repräsentationsfiguren sind, zieht das Menschen an. In der Filmindustrie werden die Hauptrollen mit weißen Menschen besetzt, damit sich das weiße Publikum mit ihnen identifizieren kann. Umgekehrt kann das auch in der Kirche funktionieren: Wenn People of Color in unserer Kirche mitentscheiden und gestalten, wird sie vielfältiger. Wenn wir in der VEM Programme planen, holen wir uns immer eine deutsche, eine afrikanische und eine asiatische Stimme dazu. Aber eine Quote allein bringt nichts. Wir müssen uns Gedanken über die Ausbildung machen und über die Anerkennung ausländischer Ordinationen, wie das in der rheinischen Kirche schon möglich ist. Und wir brauchen Antirassismus-Training für die Weißen und Empowerment-Training für die People of Color.
Im Selbstbild der Kirche spielt Rassismus aber keine Rolle.
Vecera: Wir haben gelernt, dass wir die Guten sind und doch schon in der Anti-Apartheid-Bewegung aktiv waren. Rassismus sind die Nazis und die Menschen mit Springerstiefeln, aber nicht wir. Der Begriff ist ja auch so moralisch aufgeladen, dass es natürlich schwer ist anzuerkennen: Wir alle und auch ich sind nicht frei von rassistischen Prägungen und Verhaltensweisen.
Wo können sich Gemeinden bei dem Thema Hilfe holen?
Vecera: Natürlich bei der VEM. Wir können uns zwar nicht zehnteilen und haben schon mehr Anfragen als Kapazitäten, aber trotzdem können sich Gemeinden gerne melden. Wir haben dazu auch das Blog rassismusundkirche.de ins Leben gerufen. Es soll Dreh- und Angelpunkt zu diesem Thema werden, damit sich Gemeinden informieren können. Dort gibt es persönliche Statements, Materialien für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, für Freiwilligendienste und Gottesdienste sowie eine Speaker- und Speakerinnenliste. Und man kann sich als Gemeinde mit seinen Erfahrungen und Projekten registrieren und so den Austausch untereinander ermöglichen. Ab Juli wird zusätzlich ein Forum eingerichtet, wo Fragen geteilt werden können. Mit dem Thema beschäftigen sich schon viele Menschen innerhalb der Kirche und dieses Blog vermittelt einen Eindruck davon.
Einer dieser vielen Menschen sind Sie. Erleben Sie auch Anfeindungen deswegen?
Vecera: Vor bestimmten sozialen Medien scheue ich mich. Ich habe bewusst keinen Youtube-Kanal und Facebook ist auch nicht so freundlich. Ich bin hauptsächlich bei Instagram und da herrscht überwiegend eine wertschätzende Kommunikation und gute Diskussionskultur. Sehr kritisch war es nach meinem epd-Interview mit der Quoten-Forderung. Da gab es in den Kommentarspalten ganz viel Hass, aber das lese ich mir nicht alles durch. Ich glaube, da war ich auch ein Ventil für Leute, die ohnehin schon aus der Kirche ausgetreten waren und ihrem Frust noch mal freien Lauf lassen wollten. Ansonsten erlebe ich in den Netzwerken eher positive Reaktionen darauf, dass ich die Menschen in meinen Alltag hineinnehme und sie sehen können, welche Herausforderungen es als Person of Color in dieser weißen Gesellschaft und in dieser weißen Kirche gibt. Denn noch bestehen in der antirassistischen Bewegung viele Vorbehalte gegenüber der Kirche. Bis sich das ändert, muss sich die Kirche erst mal intern mit Rassismus beschäftigen, um dann auch etwas anderes ausstrahlen zu können.