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Kraft, Sicherheit und Zuversicht lassen nach.

Andreas Attinger (ekir.de)

Der Ukraine-Krieg lässt hierzulande viele Menschen mit Ängsten und Sorgen zurück. Das erleben auch die Mitarbeitenden der Telefonseelsorge. Im Interview berichtet Volker Bier, Leiter der Telefonseelsorge Saar, welche Personen am meisten mit der Situation zu kämpfen haben – und gibt Tipps, wie man sich selbst helfen kann.

Herr Bier, der Ukraine-Krieg löst bei vielen Menschen Ängste und Sorgen aus. Inwieweit spiegelt sich das auch bei der Telefonseelsorge wider?
Volker Bier: Zu Beginn des Konflikts war der Ukraine-Krieg in rund 20 Prozent der Kontaktaufnahmen Thema. Insgesamt stellen wir dabei eine Korrelation zwischen Angst, Einsamkeit und dem Krieg fest. Bei Menschen, die ohnehin schon ängstlich sind, werden diese Gefühle durch den Konflikt verstärkt. Und diese Menschen kontaktieren uns umso häufiger. Zudem tauchen mehr Menschen mit Panikattacken auf. Sie erleben eine Situation, der sie ohnmächtig gegenüberstehen. Dieses Gefühl ist ein Abbild dessen, wie viele Menschen den Krieg erleben: als gefährdend, nicht regulierbar und als eine Situation, der sie ausgeliefert sind. Kommt dann noch Einsamkeit hinzu, verstärkt das diese Gefühle. Schließlich haben die Menschen niemanden zum Reden. Wir als Telefonseelsorge können dann Unausgesprochenes mit den Anruferinnen und Anrufern ans Licht bringen. Das hilft!

Lassen sich die geäußerten Ängste und Sorgen in Kategorien aufteilen?
Bier: Ja, grob kann man die Ängste und Sorgen in vier Kategorien einordnen. In der ersten Kategorie findet sich die eigene Betroffenheit. Dazu gehören Selbstaussagen wie: „Ich habe Angst, das macht mir Sorgen.“ Diese Aussagen kamen vor allem zum Tragen, als das erste Mal ein möglicher Einsatz von Atomwaffen zur Sprache kam. In der zweiten Kategorie geht es um Mitleid. Die Menschen haben eine Vorstellung davon, welche Ängste die vom Krieg betroffenen Menschen erleben. „Das muss furchtbar sein“, ist eine der Kernaussagen. Die dritte Kategorie dreht sich um eine Verbundenheit. Dazu zählen Gefühle von Ohnmacht und Fragen wie: „Was kann ich überhaupt tun?“ Und die vierte Kategorie bezieht sich auf den gesellschaftlichen Kontext. Da passiert etwas, auf das ich keinen Einfluss habe. Dazu gehört auch eine Verunsicherung gegenüber den Informationen aus den Medien. Was ist wahr? Was nicht? Diese Unsicherheit gab es auch schon mit Blick auf Corona.

Welche Altersgruppen thematisieren den Ukraine-Krieg vor allem?
Bier: Das sind vor allem die Älteren, von den 50- bis 60-Jährigen bis hin zu den 80- bis 90-Jährigen, die besonders betroffen sind. Bei den Jüngeren spielt das Thema weniger eine Rolle und hat eher bei Einzelpersonen eine besondere Dramatik, etwa durch Panikattacken.

Woran liegt das?
Bier: Das lässt sich so pauschal nicht sagen. Vielleicht fehlt den Jüngeren im Vergleich zu den Älteren etwas der Zugang zum Thema. Vor allem bei den über 80-Jährigen sind oft eigene Kriegserinnerungen entscheidend. Wir haben Anrufende, die in der Nähe von Ramstein leben, zum Fenster gehen und sagen: „Hören Sie das auch? Die Motoren der Bomber? 70 Jahre lang habe ich nicht daran gedacht und jetzt höre ich das Geräusch meiner Kindheit wieder.“ Das ist noch mal eine ganz andere Betroffenheit, die in der Nähe zu den großen Militärbasen Ramstein und Spangdahlem besonders auffällt. Ähnlich ist das bei der Generation, die durch Erzählungen aus erster Hand den Krieg in Deutschland genau vor Augen hat.

Hat sich die Situation seit Beginn des Kriegs verändert?
Bier: Ja, wir haben eine Art des Verstummens. Die Menschen sagen: „Darüber kann und will ich nicht mehr sprechen.“ Sie sind gewissermaßen sprachlos. Viele Menschen haben zudem ein persönliches Schutzkonzept aktiviert. Sie schauen nicht mehr rund um die Uhr Nachrichten, weil es ihnen sonst zu viel wird. Dennoch bleibt die Situation eine besondere, da der Ukraine-Krieg nicht isoliert betrachtet werden kann. Vielmehr reiht er sich in eine Reihe von Krisen ein: die Klimakrise, die Corona-Pandemie und die Krise der sozialen Ungerechtigkeit, die uns bevorsteht. Das erleben wir auch in den Gesprächen: Es gibt so viele Themen, die den Menschen Sorgen bereiten. Kraft, Sicherheit und Zuversicht lassen nach. Das Thema Ukraine ist also bis auf einen Anteil von zirka zehn Prozent aus den Gesprächen verschwunden, geblieben ist eine „Dünnhäutigkeit“, ein besonders hoher Leidensdruck, der sich in der erhöhten Nennung von Einsamkeit, Angst oder Depression widerspiegelt.

Welche Tipps können Sie für den Umgang mit dem Ukraine-Krieg geben?
Bier: Am wichtigsten ist für mich: Wenn die Seele Schutz sucht, sollte man ohne schlechtes Gewissen Schutz bieten. Sich zu schützen bedeutet keineswegs, wegzuschauen. Es geht nicht um ein „Entweder-oder“, sondern um ein „Und“, dessen Aussage es ist: Der Krieg in der Ukraine ist Realität UND ich brauche Räume, in denen ich nicht daran denke. Es gilt, das Nebeneinander von beidem zuzulassen. Ich darf mir erlauben, erschrocken über die Geschehnisse zu sein, und gleichzeitig das Glück nutzen, nicht direkt betroffen zu sein. Außerdem bin ich der Meinung: Wer etwas tun kann, sollte etwas tun.

Wie meinen Sie das?
Bier: Viele Menschen gehen in die Aktion über, ordnen Hilfsgüter oder helfen ankommenden Geflüchteten. Das hilft, die Ohnmacht loszuwerden, und sorgt für ein Gefühl von Gemeinschaft. Christlich gesprochen: Wir sind alle Kinder Gottes. Und wenn wir alle Kinder Gottes sind, dann helfen wir auch den Brüdern und Schwestern. Gelebte Nächstenliebe heilt den, der liebt, und den, der sie erfährt. Lassen Sie uns das Geschenk Gottes an die Welt nutzen. Hier steckt auch wieder ein „Und“ dazwischen: Ich bin zwar nicht betroffen und kann trotzdem etwas tun, um zu helfen. Rituale können ebenfalls helfen. Beispielsweise morgens nach dem Aufstehen eine Kerze anzuzünden. Das erinnert uns ebenso an den Wert eines Miteinanders und Menschseins. Damit setze ich ein Zeichen: „Ja, ich denke an die Menschen.“ Ich habe mir eben Blumen gekauft, um mich zu erinnern.

Sie haben das Christliche angesprochen: Spielt der Glaube in den Gesprächen ebenfalls eine Rolle?
Bier: Vor allem in der Mail- und Chatarbeit und damit bei den Jungen hat sich der Wunsch nach Seelsorge seit Kriegsbeginn verstärkt. Der ausgesprochene Glaube steht dabei aber nicht im Zentrum der Gespräche. Wenn, dann sind es die Menschen, die ohnehin schon gläubig sind, die sagen: „Und wenn ich dann gar nicht mehr weiterweiß, verlasse ich mich auf Gott.“ Das haben wir vorher in der Form noch nicht gehört. Bei der Telefonseelsorge geht es aber auch in aller Regel nicht um gemeinsam ausgesprochene Glaubensbekenntnisse. Es geht darum, den Menschen zuzuhören und einen Austausch anzubieten. Und Aufarbeitung spielt in dieser akuten Situation des Ukraine-Kriegs keine Rolle. Das ist auch nicht möglich. Wir alle wissen nicht, wann der Krieg aufhört und wie sich die Situation entwickelt.

Ist die Situation also auch für die Ehrenamtlichen eine besondere?
Bier: Auf jeden Fall. In der Regel sind sie in einer begleitenden Rolle, also eher Zuhörer oder Zuschauer. Jetzt sind sie Teil des Orchesters. Zum ersten Mal höre ich von den Ehrenamtlichen: „Normalerweise bringe ich mich selbst nicht mit ein, aber jetzt habe ich gesagt: ,Ja, das geht mir auch so‘.“ Die gemeinsame Betroffenheit führt zu einer anderen Qualität des Miteinanders. Plötzlich hat man die gemeinsamen Bilder zum Beispiel des Vaters vor Augen, der sich mit Handy am Ohr von seinen Kindern am Bahnhof verabschiedet. Das ist in dieser Ausprägung neu.

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