Aktuelles

Bedenkliches zum Reformationstag

Ein Brief von Pfarrerin Karin Dembek an Martin Luther

Lieber Martin Luther,

am 31. Oktober sind es 503 Jahre, seitdem du deine 95 Thesen zur Erneuerung der Kirche in Wittenberg veröffentlicht hast und damit mehr als nur einen wissenschaftlichen Diskurs verursachtest.

Im Jahr 2020 müssen wir als Kirche erleben, dass wir in Zeiten der Corona-Pandemie als „nicht systemrelevant“ eingeordnet werden. Dabei sind Menschen verunsichert, einsam, sorgen sich – eigentlich ist Seelsorge gefragt, Zuspruch bitter vonnöten. Aber wir merken, dass wir zu einem Sinnanbieter unter vielen anderen geworden sind. Wir haben ein Relevanz-Problem, lieber Martin!

In den letzten Jahren haben wir uns mit Verwaltungsreformen, Kirchenfusionen und Finanzfragen beschäftigt. Statt auf die Kraft des Evangeliums, der guten Nachricht von Jesus Christus zu trauen und gegen den Strom zu schwimmen, kamen wir miefig und sorgenvoll daher. Ja, wir haben auch viel Vertrauen verloren, weil sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen viel zu lange unter den Teppich gekehrt wurde und die Aufarbeitung nur zögerlich geschieht. Viele Menschen kehren uns den Rücken zu, verlassen die Kirche, weil sie sie nicht brauchen, weil sie ihnen nichts bringt für ihr Geld. Den zornigen Gott, den du gefürchtet hast, lieber Martin Luther, kennen die meisten gar nicht. Und der „liebe Gott“ tut nichts…

Überhaupt können Menschen mit unseren Gottesdiensten, unseren Ritualen immer weniger anfangen; dass Gottesdienst Dienst Gottes an uns Menschen ist, dass wir im Gottesdienst auftanken und Kraft schöpfen können, gelingt uns nicht zu vermitteln. Die IHK (also die Industrie- und Handelskammer) bietet Kurse für freie Rednerinnen und Redner an, da „der Bedarf an freien Rednerinnen und Rednern für Trauungen, Beerdigungen und Kinderwillkommensfeste [kontinuierlich] steigt […] Viele Menschen wünschen sich eine besondere und individuelle Atmosphäre zu einem dieser Anlässe.“ Bei evangelischen Trauerfeiern steht der Verstorbene mit seinem Leben und dem, was ihn ausgemacht hat, im Mittelpunkt. Die Lebensgeschichte wird mit einem biblischen Trostwort verwoben. Schließlich geht es doch um mehr, als nur um das abgeschlossene Leben. In der Auflistung der Lerninhalte der IHK finde ich zwar Stimmbildung und Bühnenpräsenz, Marketing und Kommunikation, aber wo bleiben der bitter nötige Trost und die Hoffnung, dass der Tod nicht das letzte Wort hat?! „Kinderwillkommensfeste“ bieten von der IHK zertifizierte Rednerinnen und Redner auch an. Die Taufe ist aber mehr als die Begrüßung eines neuen Erdenbürgers! Sie ist Gottes unverbrüchliches „Ja“ zu einem Menschen. Dieses „Ja“ Gottes geschieht bedingungslos. Mit der Taufe wird der Täufling zu Gottes geliebtem Kind. Du, lieber Martin, hast dir in schwierigen Zeiten immer wieder aufgeschrieben „Ich bin getauft!“, was heißt: ich bin nicht allein, niemals verlassen, Gott liebt mich.

Ganz sicher haben wir versäumt, den Menschen Gott so nahezubringen, dass er selbstverständlich zu ihrem Leben gehört; dass die Bibel kein verstaubter Schinken, sondern ein Buch voller Leben ist. Ich merke, dass in den Familien große Sprachlosigkeit besteht, was den Glauben angeht.

Ich bin ein bisschen ratlos, Martin, und auch ein wenig müde! Hoffnung schöpfe ich daraus, dass wir mittlerweile ökumenisch eng zusammenarbeiten. Ich vertraue meinem Gott, der mir Fehler erlaubt und mich bei neuen Wegen zu den Menschen nicht allein lässt. Den gnädigen Gott, der uns annimmt, aufrichtet und ausrichtet brauchen wir dringender denn je. Vertrauen macht Mut und bringt Hoffnung, dass wir nicht aufgeben, sondern Freude an Neuem finden.

Ich grüße dich herzlich, Martin!

Pfarrerin Karin Dembek
Evangelische Kirchengemeinde Kevelaer

Zurück