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Sind Kirchenaustritte systemrelevant, fragt Superintentendent Wefers

Ein Beitrag von Superintendent Hans-Joachim Wefers in der Rheinischen Post am Freitag, 3. Juli 2020

Die beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland haben 2019 massiv an Mitgliedern verloren: Insgesamt traten mehr als eine halbe Million Katholiken und Protestanten aus den Glaubensgemeinschaften aus – so schallte es vor wenigen Tagen durch die Medienlandschaft Deutschlands. Und wenngleich ich persönlich das natürlich bedaure und mit mir viele Mitglieder, die in der Kirche verbleiben und sich redlich um überzeugendes kirchliches Leben mühen, mag es auch viele geben, die offen oder heimlich denken: Gut so, geschieht ihnen Recht, längst überfällig, niemand braucht sie wirklich, die Kirchen.

Dagegen stelle ich die Frage: Sind nicht auch die immer weiter gehenden Kirchenaustritte am Ende „systemrelevant“? Und haben sich das alle genug klargemacht, die diesen Schritt vollzogen haben?

Auf lange Sicht wird jedenfalls das Fehlen kirchlicher Arbeit in der Gesellschaft, das mit den zurückgehenden Finanzmitteln notwendig verbunden sein wird, auch Folgen für die Gesellschaft haben und diese verändern, davon bin ich überzeugt.

Dabei denke ich keineswegs nur an die sozialen Aktivitäten der Kirche. Sie können grundsätzlich sicher auch von anderen wahrgenommen werden, wenngleich sie auch dann bezahlt werden müssen. Und dann werden also Steuern oder Beiträge für alle erhöht werden müssen, auch für die, die jetzt ihren persönlichen Vorteil aus dem Austritt ziehen, am Ende also ein Nullsummenspiel. Oder der Staat springt eben nicht ein und andere auch nicht – dann werden diese Leistungen also fehlen. Durchaus systemrelevant.

Ich denke aber auch mindestens genauso an das Bildungshandeln der Kirche und die damit verbundene Wertevermittlung in der Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen jeden Alters. Auch viele dieser Werte teilen die Kirchen mit anderen in der Gesellschaft, die sie auch vermitteln könnten. Aber es gibt wohl keine Institution und auch keine Organisation, die dies so prägend getan hat und tun könnte, wie dies durch die Kirchen direkt und indirekt geschehen ist. Und auch dieser Ausfall wird systemrelevant sein und sich entsprechend auswirken.

Und dann bleibt da noch die kirchliche Seelsorge, die von der individuellen Begleitung bis hin zur professionellen Beratung in Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstellen oder etwa der sog. Notfallseelsorge reicht. Wenn es das alles nicht mehr gibt, jedenfalls nicht auf dem Hintergrund eines christlichen Menschenbildes - das würde unsere Gesellschaft in einer Weise verändern, die ich mir tatsächlich nicht vorstellen möchte. Deswegen: Lassen sie uns reden über kirchliche Arbeit und ihre Defizite. Und diese zum Guten verändern! Aber treten Sie nicht unbedacht einfach aus, ohne die Folgen für das System zu bedenken. Ich glaube nicht, dass davon ein Gewinn für alle ausgeht.

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